de-Ist die Taijiquan-Industrie kultureller Kolonialismus?
In den Debatten um Yoga [1] kommt immer wieder der Begriff Cultural Appropriation auf. Damit wird die Aneignung von Praxen einer anderen Kultur aus einer westlichen Machtposition heraus bezeichnet, in der diese Praxen zur besseren Kommerzialisierung verwestlicht und völlig verändert werden. Beim Yoga geschieht dies wohl aus der Machtposition des in den Köpfen noch vorhandenen Kolonialismus heraus.
Wenn man heute an Yoga denkt, formiert sich wohl bei den allermeisten ein Bild vor Augen, welches gelenkige weiße Frauen in eigens dazu designter Kleidung auf bunten Gummimatten zeigt. Mit der ursprünglichen Praxis des Yogas und seiner vollumfänglichen Lebensphilosophie hat dies nicht mehr viel gemein; was hier praktiziert wird, wurde gekürzt, vereinfacht, versportlicht, kommerzialisiert und so verändert, dass diese Praxis letztendliche kaum noch etwas mit ihrem Ursprung zu tun hat. Das Bild das die Menschen im Westen von dieser Praxis im Kopf haben ist ein ganz anderes, als das was Yoga ursprünglich ist.
Im Taijiquan geschieht ganz ähnliches. Taijiquan ist eine komplexe Praxis, eine Familien-Kampfkunstsystem mit philosophischen Hintergrund und gesundheitsfördernden Inhalt. Was daraus im Westen gemacht wird hat oftmals nichts mehr mit dem ursprünglichen Taijiquan zu tun.
Video: Extrembeispiel für "kulturellen Kolonialismus"
Fairerweise darf man im Falle Chinas nicht alleine die "Westler" dafür verantwortlich machen. In ihrem Bemühen, während der Kulturrevolution alles Kulturelle und damit auch die Kampfkünste ihres Landes zu zerstören, indem sie ihr Praktizieren verbot, Kampfkunstlehrer inhaftierte, folterte und auch tötete, tat auch die chinesische Regierung ihr möglichstes dazu den ursprünglichen Praxen den tieferen Inhalt zu nehmen.
Später wurde dazu ein viel intelligenterer Weg eingeschlagen, nämlich die Kampfkünste staatlich organisiert zu versportlichen. So ist das Bild das man heute von Taijiquan sowohl in China als auch im Westen hat sehr oft verbunden mit den tänzerisch-akrobatischen Küren die auf Wettbewerben vorgeführt werden.
Mit dem ursprünglichen Taijiquan hat dies aber nichts mehr zu tun.
Video: Taijiquan Weltmeisterin ohne Kenntnis der Basisprinzipien des Taijiquan
So kann man heute Taijiquan Weltmeister werden ohne die Basisprinzipien des Taijiquan zu kennen oder gar zu beherrschen, was nötig ist um in das nächsthöhere Taijiquan-Level zu gelangen in dem man Neijin die innere Bewegung trainiert, der Zeitpunkt an dem man eigentlich erst beginnt Taijiquan zu verstehen und umzusetzen. Jemand der bei so einem Wettbewerb ein echtes hohes Taijiquan Level demonstrieren würde hätte wohl kaum eine Chancen ihn zu gewinnen, denn auf so einem Level drückt sich Taijiquan mit wenig äußerer Bewegung und damit sehr ruhig, kompakt und unscheinbar aus, und ist daher kaum geeignet ein Publikum ohne Sachkenntnis zu unterhalten.
Video: Echtes Taijiquan auf hohem Level
Im Westen bedient man sich dann aus einer Mentalität der überlegenen westlichen Position heraus an der fremden und faszinierenden Kultur des Taijiquan und verändert sie nach belieben so wie man sie gerne haben möchte, sei es mit einem Schuss Esoterik, Mystik, Verkleidung, Nostalgie oder einer Portion daoistischer Religion, Hauptsache sie lässt sich vermarkten. Allzu gerne tut-man-so-als-ob und hängt lieber einer nostalgischen Fantasie nach, statt das ernsthafte, schweißtreibende, langjährige Studieren und fordernde Training auf sich zu nehmen.
Selbst in einigen traditionellen Linien, in denen Taijiquan noch authentischen Inhalt hat, sieht man einen Trend sie für "Westler" passend zu machen.
Und letztendlich erklärt der kulturelle Kolonialismus auch, warum sich nur wenige mit den schriftlichen Überlieferungen, der Geschichte und Philosophie des Taijiquan beschäftigen wollen. Daran Taijiquan ernsthaft studieren zu wollen, seine Grundlagen zu verstehen und umzusetzen zu können, die darin enthaltenen Theorie des Taijiquan tiefgreifend zu verinnerlichen interessiert eigentlich kaum jemand; man weiß ja bereits alles oder will es gar nicht wissen.
Endnote
[1] Zwei Artikel zum Thema kultureller Kolonianismus:
https://www.qiio.de/yoga-kulturelle-aneignung-yoga-industrie